In meinem mehr als zwei Jahrzehnten andauernden Leben mit Hund bin ich schon sehr oft in die Diskussion über die sogenannte „Beißhemmung“ mit anderen Hundehaltern gekommen. Meist kommt man auf das Thema, wenn die Menschen am Rand einer großen Wiese stehen und ihre Hunde beim Toben beobachten.
Viele Hundehalter propagieren die mittlerweile längst veralteten und überholten Erkenntnissse verschiedener Verhaltensforscher, dass die Beißhemmung ein angeborener – schon vorhandener – Schutzmechanismus bei unseren Hunden, welcher letztendlich ihrer Arterhaltung diene. Diese Beißhemmung solle dazu führen, dass der Sieger einer Auseinandersetzung unter Artgenossen den unterlegenen Hund nicht ernsthaft verletzt, sofern dieser sich mit Demutsgebärde unterwirft.

An dieser Stelle kommt es oftmals zu Missverständnissen in der Diskussion, denn der Begriff „Beißhemmung“ wird heutzutage in der Hundeerziehung dafür verwendet, um die Fähigkeit zur Kontrolle der Beißintensität zu beschreiben.

Diese Fähigkeit muss der Hund erst erlernen.

Der Welpe (~ ab der 4. Woche) erlernt eine Beißhemmung im Spiel mit seinen Geschwistern und durch seine Mutter.
Wer schon einmal die Gelegenheit hatte miteinander spielende Welpen zu beobachten, stellt fest, dass sie sich gegenseitig zwicken und zwacken. Es wird gequietscht, wenn das Zwicken zu grob war und das Zwacken wird mit einem Zurückzwicken beantwortet. Hier erfahren die Welpen im Spiel und am eigenen Leib, wann es dem Geschwisterchen zu weh getan hat: Der Welpe bekommt als Feedback eine Gegenattacke oder aber das Geschwisterchen will gar nicht mehr mitspielen.

Auch die Mutterhündin lehrt durch ihr Verhalten ihren Welpen, wo ihre (der Mutter) „Schmerzgrenzen“ sind. Entweder ruft sie den übermütigen Welpen zur Ordnung oder sie entzieht sich schlichtweg und geht.
Auf gut deutsch: Es ist doof, wenn man zu fest gezwackt hat.

Auch in seinem menschlichen Rudel muss ein Welpe lernen, dass er seine Beißintensität kontrollieren muss, dass sein „Biss“ gehemmt ist. Ein Hund ist schließlich mit einem Gebiss ausgestattet, mit dem er auch im Spiel verletzen und schaden kann. Er muss lernen, dass er seine „Waffen“ gegenüber Menschen, Artgenossen und anderen Tieren nur sanft einsetzt. Im Englischen wird diese Fähigkeit als „soft mouth“ (weiches Maul) bezeichnet.

Das Zeitfenster, in dem der Welpe das „soft mouth“ lernen muss, ist eng. Es beginnt sich bereits zu schließen, wenn der Welpe im Alter von ungefähr 16-18 Wochen mit dem Zahnwechsel beginnt und sich die ersten bleibenden Zähne zeigen.
Der Besuch von Welpenstunden ist empfehlenswert, denn so bietet man dem Welpen auch nach seinem Einzug in seine neue Familie die Möglichkeit seine Sozialisierung mit anderen (gleichaltrigen) Artgenossen fortzusetzen.

Beißhemmung bedeutet nicht, dass der Welpe aufhört zu beißen. Im Gegenteil, Welpen müssen beißen, damit sie die Beißhemmung – die Fähigkeit zur Kontrolle der Beißintensität – lernen können. Man kann sogar sagen, je mehr ein Welpe beim Spielen zwickt und zwackt, desto besser kann man ihm die Beißhemmung beibringen, da sich die Gelegenheit zur Übung öfter bietet. Der Welpe muss lernen, die Kraft seines Bisses so zu hemmen, dass er weder zu sehr weh tut noch schadet.
Es ist natürlich, normal und notwendig, dass Welpen beißen. Nur so können sie entsprechendes Feedback erhalten und Sicherheit in der Kontrolle über die eigene Beißkraft gewinnen.

20101205_hmpf_0046Auch Welpen sind Individuen: So gibt es Welpen, die von sich aus gar nicht so häufig beim Spielen beißen. So wird gesagt, dass bestimmte Hunderassen (beispielsweise der Spaniel) schon als Welpe einen ausgeprägtes „soft mouth“ haben. In so einem Fall kann die Erfahrung, die der Welpe macht, nicht ausreichend sein, um eine gute Beißhemmung zu erlernen, da schlichtweg die Übungsmöglichkeit mangels Spielbeißen fehlt. Als Lösung bietet sich der Besuch von Welpenspielstunden in der Hundeschule an, wo der Welpe im Spiel mit seinen gleichaltrigen Artgenossen eher zu Spielbeißereien animiert werden kann.

Die zahlreichen „Spiel-Bisse“ mit den nadelspitzen Milchzähnen können durchaus recht schmerzhaft sein, verursachen aber in der Regel selten Schaden aufgrund der noch nicht so ausgeprägten Kieferkraft eines Welpen. Der Kiefer eines erwachsenen Hundes dagegen ist stark genug, um bei einem auch spielerischen Biss Verletzungen zu verursachen.
Je mehr Gelegenheiten ein Welpe zum spielerischen Toben und „Beißen“ hat, desto sicherer wird er später als erwachsener Hund im Bezug auf seine Beißhemmung sein. Hat der Welpe nicht die Möglichkeit während seiner Entwicklung normal mit anderen Artgenossen, Menschen und Haustieren zu interagieren, so obliegt allein dem Halter die verantwortung seinem Hund die Beißhemmung beizubringen.

Es ist unbedingt notwendig, dass ein Hund die Beißhemmung lernt, denn ein erwachsener Hund, der auf Armen, Händen, Beinen von Familie, Freunden und Fremden spielerisch rumkaut und hineinbeißt, ist absolut unzumutbar für jedermann. Selbst wenn ich als Hundehalter vermeintlich Spaß daran habe, dass mein Hund auf mir herumkaut, so wird ein Kind oder ein Fremder beispielsweise mit Angst vor Hunden nicht die spielerische Absicht des Hundes deuten können. Das kann Folgen unterschiedlichster Art mit sich bringen. Ein wichtiger Grundsatz, den alle Hundehalter versuchen zu befolgen sollten, lautet: „Halte deinen Hund so unter Kontrolle, dass sich deine Mitmenschen nicht belästigt oder gar bedroht fühlen.“

Eine gut ausgeprägte Beißhemmung bedeutet jedoch nicht, dass der Hund nie wieder in Konfliktsituationen geraten kann. Fast jeder Hund ist in seinem Leben schon mal in eine Rauferei verwickelt worden. Aber nur wenige Hunde haben andere Hunde oder gar Menschen ernsthafter verletzt.

Selbst ein zum Beißen provozierter Hund wird selten so fest zubeißen, dass er jemanden verletzt, sofern seine Beißhemmung gut ausgebaut wurde. Solange ein Hundebiss keinen oder wenig Schaden verursacht, ist die Resozialisierung des Hundeverhaltens vergleichsweise einfach. Bei einem erwachsenen Hund, der kein „soft mouth“ gelernt hat und dessen Bisse tiefe Wunden verursacht, ist die „Rehabilitation“ wesentlich schwieriger, zeitaufwändiger und potentiell gefährlicher.


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